Aus der Rubrik »Geschlecht & Gesellschaft«
Sineb El Masrar gründete 2006 ein Magazin für Frauen mit Einwanderungsgeschichte und Migrationshintergrund. Ihr Ziel? Der defizitären Medienberichterstattung etwas entgegensetzen! Raus aus der Opferperspektive, hinein in diverse Erzählungen.
Für Birgit Heller begann die Auseinandersetzung mit Gender und Religion in ihrem Studium der Theologie. Argumentierte sie anfangs damit, dass Gott in der Schrift als geschlechtslos dargestellt werde, musste sie schnell feststellen: Gott wird meist mit männlichen Attributen beschrieben, dargestellt und gedacht. Heute bezeichnet sie sowohl das Judentum, als auch das Christentum als patriarchale Religionen.
1) Religionen sind deshalb patriarchal, weil die Interpretationsmacht der heiligen Schriften bis heute größtenteils bei Männern liegt.
Laut Birgit Heller seien viele Geschlechterrollen bereits in den Texten angelegt, ganz weglesen ließen sich Geschlechterungerechtigkeiten aus den Texten also nicht. Dennoch seien die Schriften nicht immer so eindeutig, wie behauptet werde.
Eine feministische Lesart der Texte wird sowohl im Islam, als auch in der christlichen Religionen angewendet, konnte sich aber bislang nicht durchsetzen. Letztendlich ist Religion ein soziales System, in dem die Deutungshoheit über lange Zeit bis in die Gegenwart hinein den Männern überlassen wurde.
2) Das Patriarchat und die Religion sind historisch gewachsene Komplizen, die sich entschieden haben, der Freiheit den Rücken zu kehren.
Das Problem des Victim Blamings, der Schuldzuweisung und das mitverantwortlich machen von weiblich gelesenen Personen im Falle eines Sexualdeliktes, habe ihren Ursprung in einer religiöse Bildtradition: Die Frau als Verführerin im Garten Eden, die die Schuld an Adams Sündenfall trägt.
Auch im Islam gibt es heute noch Gläubige, die die Frau mit Kleiderordnungen oder der Beschränkung auf das Häusliche in ihrer Autonomie einschränken. Legitimiert werden diese Einstellungen gerne mit der religiösen Tradition. Auch wenn es heute kein Bewusstsein mehr für den Ursprung unserer Denkweise gibt, ist diese so sehr in unsere Kultur eingeschrieben, dass wir noch immer mit den Auswirkungen des patriarchalen Gedankengutes zu kämpfen haben.
3) Religionen bieten grundsätzlich Platz für eine Diversität der Geschlechter, auch außerhalb binärer Genderkonstruktionen.
In der Entstehungszeit vieler religiöser Traditionen wäre durchaus eine Offenheit für eine geschlechtergerechte Auslegung der Schrift vorhanden gewesen. In der Bibel ist beispielsweise von der Apostolin Junia die Rede, also einer weiblichen, beauftragten Verkünderin des Wort Gottes, und im Buddhismus gäbe es Berichte über erleuchtete Nonnen. Auch nicht-binäre Figuren hätten in der Historie der Religionen schon immer ihren Platz gehabt, so zum Beispiel die christliche Heilige Kümmernis, eine Frau mit Bart an einem Kreuz, oder Ardhanarishvara, eine Gestalt des hinduistischen Gottes Shiva, der zusammen mit seiner Gemahlin Parvati eine Gestalt bildet, die halb Mann und halb Frau ist.
Gehalten haben sich diese Schriftauslegungen aber nicht, da die Herrschaft der mächtigen Männer die bloße Erwähnung von nicht-männlichen Personen in den Schriften für so unwahrscheinlich hielten, dass sie lieber an einen Übersetzungsfehler glaubten, als an die Existenz von weiteren Protagonist*innen in ihrem Glauben.
4) Eine säkularisierte Gesellschaftsform ist einer laizistischen vorzuziehen.
Laut Sineb El Masrar wäre der Vorteil der Säkularisierung gegenüber des Laizismus, dass man religiösen Unterricht an den Schulen besser kontrollieren könne und der Staat einen Blick auf das werfe, was unterrichtet werde. So überlasse man die religiöse Bildung nicht den Eltern, islamischen Verbänden oder Koran-Schulen, die in Teilen konservatives oder islamistisches Gedankengut an die Kinder weitergäben.
Ziel sei es, dass unterschiedliche Lesarten der Schriften Realität werden dürfen. In Zukunft muss es möglich sein ohne Tabus und Existenzängste, also frei, über Religion zu denken und zu reflektieren. Nur ein säkularer Staat kann dies gesetzlich sichern und umsetzen.
5) Sakrale Ideologien gibt es auch außerhalb des Bezugssystems Religion.
Religion werde immer da zum Problem, wo sie unantastbar wird. Dort, wo man keinen Diskurs mehr führen kann, nicht frei formulieren darf, Gewohnheiten und Widersprüche nicht mehr aufdecken darf, beraube die Religion individuelle Freiheiten.
Die Gründe für diese Verbote liegen oft in der Heiligkeit der Religion und ihrer Hüter, die in keinem Fall in Frage gestellt werden darf. Diese Argumentationslinie sei aber längst nicht mehr nur in religiösen Diskursen zu verfolgen.
Auch im Zeitalter der Cancel Culture gelten manche der vertretenen Ideale als sakral und damit unantastbar. Selbst die in den Naturwissenschaften proklamierte Objektivität oder Rationalität sei im Grunde nicht mehr als ein erkenntnisgeleitetes Unterfangen und könne, ebenso wie die Religion, eine Legitimationsgrundlage für die Aufrechterhaltung von Gender-Ungleichheiten bilden.
Artikel von Rachel Bleiber