Aus der Rubrik »Das Ich – Ein Algorithmus? and Geschlecht & Gesellschaft«
CW: Häusliche Gewalt, selbstverletzendes Verhalten, Suizid
Ralf Ruhl ist Journalist. Er schreibt über Väter und Jungen, das Thema Familie, über Kinderbücher, Spiele und Gesundheit. Begeistert liest er Sagen und Balladen vor und: Er arbeitet mit Tätern häuslicher Gewalt. Als pädagogischer Mitarbeiter der Beratungsstelle für Schwangerschaft, Familie und Sexualität ist er seit 1985 in der Männerarbeit tätig und seit 2014 für die Männerberatung der AWO verantwortlich. Ihn interessiert das Mann-Sein, die Auseinandersetzung mit Männlichkeit und ihre Reflexion. Am 11.03.2021 war er im Gespräch mit Marcus Munzlinger.
Warum sind Gefühle die größte Herausforderung für Männer?
Die Welt ist eingeteilt in eine weibliche und männliche Atmosphäre. Die männliche ist die Außenwelt, die weibliche die Innenwelt. Das bedeutet, dass Jungen schon von Geburt an ganz anders angesehen werden als Mädchen. Experimente zeigen, dass mit Babys, denen das Etikett Junge angehängt wurde, insgesamt weniger, bestimmter, aggressiver und weniger liebevoll gesprochen wird. Dies ist auch in Krippen der Fall. Dazu gehört auch, dass weniger über Gefühle mit ihnen gesprochen wird. Viele Männer haben daher Probleme, Gefühle überhaupt zu benennen.
Aber es geht doch nicht nur um die frühkindliche Entwicklung?
Aus dieser Phase entstehen Folgeerscheinungen. Wie werden wir angesprochen? In der Schule machen Jungs das, was Jungs machen und Mädchen das, was Mädchen machen – die Sozialisation baut auf den einzelnen Bausteinen auf. Das schlägt sich später in der Berufswahl nieder, aber leider auch in der Problemlösekompetenz. So passiert es, dass Männer ganz spezifische Verarbeitungsmechanismen für Problemlagen entwickeln z.B. das Konsumieren von Drogen oder gewalttätige Handlungen.
Wie ist es mit selbstverletzendem Verhalten bei Männern?
Junge Männer oder Jungs zeigen eher selbstverletzendes Verhalten als junge Frauen oder Mädchen. Ursachen sind hier z.B. idealisierte und normierte Körperbilder oder familiäre Schwierigkeiten. Zudem wird der Großteil der Suizide heutzutage von Männern begangen. Dies hat verschiedene Ursachen z.B. die Einsamkeit bei Männern über 50.
Wie kommt es zu häuslicher Gewalt gegen andere?
Männer sind oft lösungsorientiert, Frauen sind meist prozessorientiert. Der Ausspruch „Ein Mann hat keine Probleme und wenn er sie hat, dann löst er sie“ ist ein gutes Beispiel für die Art und Weise, wie Männer mit Konflikten oder Schwierigkeiten umgehen. Gibt es finanzielle Sorgen, Probleme auf der Arbeitsstelle und Überlastung in der Familiensituation, entsteht ein enormer äußerlicher Druck. Das ist vergleichbar mit einem Thermometer, als Gradmesser für die innere Erregung, das sich nach und nach erhöht. Durch die kommunikative Unfähigkeit, diese Probleme anzusprechen und sich ggf. Unterstützung zu suchen, kann der Druck nicht abgebaut werden und irgendwann bricht das System zusammen. Es kommt zu unkontrollierten, affekthaften Gewaltanwendungen. Dies ist vor allem bei family only Konflikten so, also bei Männern, die nur Zuhause schlagen. Anders ist es bei Tätern, die Kontrolle ausüben wollen. Zwar ist das Motiv ein anderes, die männliche Sozialisation (sich über etwas/jemanden erheben) trägt aber ebenso seinen Teil dazu bei.
Wie ist es mit weiblicher Wut?
Die Mechanismen funktionieren hier sehr ähnlich, jedoch werden Frauen eher aus Angst oder bei gefühlter Bedrohung gewalttätig.
Was passiert nach einer unkontrollierten, affekthaften Gewaltanwendung?
In den wenigsten Fällen hilft der Mann der Frau nach der Tat. Dies liegt daran, dass er im Inneren vor allem Scham und Erschrecken über die eigene Tat verspürt und sich deshalb zurückzieht. In den meisten Fällen greifen erst nach der Gewalttat die Hilfe- und Unterstützungsmaßnahmen z.B. die Polizei, das Jugendamt oder ein Sozialtraining. Dabei ist aber auch zu beobachten, dass die meisten Männer erst Hilfe suchen, wenn das Außen es von ihnen verlangt. Dass sie sich selbst Hilfe holen, ist selten.
Können Männer schlechter Hilfe annehmen?
Teilweise ist es so, vor allem bei Männern, die die Kontrolle über die Frau behalten wollen. Oft ist es so, dass Männer lieber oder ausschließlich Hilfe annehmen, die sie selber vorgeschlagen und gesucht haben. Zudem ist es wichtig ein Hilfsangebot zu suchen, das lösungsorientiert ist, nicht prozessorientiert. Dies kommt den Männern entgegen und es fällt ihnen leichter, das Angebot anzunehmen.
Wie kann man so einer unkontrollierten, affekthaften Gewaltanwendung vorbeugen?
Zuallererst kann man lernen seine Gefühle zu regulieren und sie selbst in der Hand zu haben. Dazu gehört auch mit Überforderungssituationen besser umgehen zu lernen.
Mehr von Ralf Ruhl gibt’s bei Twitter
Unterstützung für Männer in Hannover: https://www.maennerbuero-hannover.de/
Unterstützung für Opfer häuslicher Gewalt im Pavillon: http://www.frauenhaus-hannover.org/home.html
Ein Beitrag von Rachel Bleiber