Aus der Rubrik »Das Ich – Ein Algorithmus?«
Wenn Voraussetzung a) erfüllt ist, dann ist c) gegeben, bei Voraussetzung b) ist es d). So formelhaft erlernen die Meisten die Definition von Geschlecht. Einer Programmierung gleich wird die Fragestellung an uns selbst und unsere Umwelt herangetragen. Vulva oder Penis? Diese Frage entscheidet in der Regel, welche Zeichenkombination uns von nun an bezeichnen wird: Unser Name.
Sind die beiden entscheidenden Merkmale nicht unmittelbar zu sehen, müssen weitere Parameter analysiert werden: Kleidung, Haarlänge, Körpergröße, Stimme, Brustform, Taille, Gesichtsform. Wenn diese Informationen fehlen, wird oft auf Beruf oder Interessen zurückgegriffen, um eine wahrscheinliche Aussage zu generieren. Widersprechen sich die Ergebnisse, müssen die Informationen gewichtet werden. Ein Algorithmus in unseren Köpfen beginnt zu arbeiten.
Doch jede Programmierung, jede definierte Abhängigkeit kann verändert werden. Niemand sieht die Dinge so, wie sie sind. Jede unserer Wahrnehmungen ist das Resultat von Arbeitsprozessen: Unsere Sinne nehmen Informationen auf, die zwischen verschiedenen Regionen unseres Gehirns in Bezug auf vorher gespeicherte Inhalte verarbeitet werden. Erst dann, mit einer zeitlichen Verzögerung von wenigen Millisekunden, beginnt unsere Wahrnehmung. Selbst einen Baum oder einen Stein erfassen wir nicht unmittelbar und auch nicht in ihrer materiellen Wirklichkeit, sondern nur vermittelt durch die Datenbank in unserem Kopf. Unser Bewusstsein ist ein Medium.
Und so können die gesellschaftlichen Kämpfe um Geschlecht und die Geschlechterverhältnisse als anhaltende Konfiguration unseres Bewusstseins gesehen werden. Jede Debatte bringt neue Informationen und fördert Muster ihrer Verarbeitung. Bisherige Informationen werden angepasst oder ersetzt, neu kontextualisiert. Die Datenlage steigt, neue Wirkungen von Argumentationen und Annahmen werden gespeichert. Unser Algorithmus lernt.
Der Anspruch der Aufklärung, sich *seines* eigenen Verstandes zu bedienen, gründete auf der humanistischen Annahme individueller Einzigartigkeit sowie der Existenz eines Geistes, der den Menschen vom Tiere unterscheide. Die durch die Neurowissenschaften in den letzten Jahrzehnten nachgewiesene quasi-maschinelle Struktur des neuronalen Netzes, dem unser Bewusstsein entspringt, stellt diese Grundannahmen in Frage. Und umso mehr, als dass sich diese Struktur immer weiter simulieren lässt. Künstliche Neuronale Netze (KNN) bezeichnen die nächste Medienrevolution. Mediales Speichern von Informationen war mit der Entwicklung der Schrift möglich, ihre mediale Verarbeitung durch Fotographie, Film und Computer. Nun wird auch Lernen maschinell – auf dem Weg zur künstlichen Intelligenz.
Ist damit das Ende des aufklärerischen Zeitalters endgültig besiegelt? Wird die Aufklärung nichts weiter sein als eine jener Epochen, in der die Menschheit Irrglauben und Obskurantismus aufsaß? Bildung, Kultur, ja der Anspruch der modernen Demokratie sind mit dem Weltbild der Aufklärung unlöslich verbunden. Kritische Reflektion des eigenen Standpunktes, eigenes Urteilsvermögen, ja Mündigkeit als nicht zuletzt sogar juristische Kategorie – alles scheint durch den kühlen Relativismus aus Neurowissenschaften und Informatik in Frage gestellt. Was bedeutet es, sich selbst zu hinterfragen? Informationen auf ihren Wahrheitsgehalt zu überprüfen? Ist nicht jede Information relativ, ist nicht alles Manipulation des Codes, mit dem wir die Informationen verarbeiten?
Im Projekt AlanAlaine wollen wir diese Fragen zulassen. Sie uns ernsthaft stellen. Und über das Beispiel unseres Denkens und Redens über die Geschlechterverhältnisse herausbekommen, ob es doch etwas gibt, dass uns auch entgegen jedem denkbaren technischen Fortschritt für immer von Maschinen unterscheiden wird.